Zum Kommentar "Meine Meinung: Die Erneuerung der SPD hat schon längst begonnen"
Hausbruch. Rund 90 Harburger Genossen waren am Montagabend in das Landhaus Jägerhof gekommen, um über den Entwurf des Koalitionsvertrages sowie die Vorkommnisse der letzten Tage zu diskutieren. Schließlich steht der Mitgliederentscheid an, in dem die gut 460.000 Mitglieder der Partei über die Große Koalition abstimmen werden.
„Es ist keine personelle Frage, sondern ob das ausreicht, was in diesem Vertrag steht.“ Mit diesen Worten forderte der Kreisvorsitzende der Harburger SPD, Frank Richter, auf, sich an den Inhalten und nicht den Personalquerelen der letzten Tage zu orientieren. Er, so legte Richter dar, werde aufgrund dieses Vertrages für die Große Koalition stimmen. Auch der Bundestagsabgeordnete Metin Hakverdi sprach sich für ein Ja aus. Für ihn ist der anstehende Mitgliederentscheid auch etwas, was die SPD auszeichne: „Jeder kann nach seinen persönlich Empfindungen, Vorstellungen und Werten darüber abstimmen. Das unterscheidet uns von jeder anderen Partei“, rief er den Genossen zu. Besonders das Europakapitel habe in überzeugt. Aber auch einen Blick in die Zukunft nach dem Votum warf er. „Ob die Partei tief gespalten ist, zeigt sich nicht an der Abstimmung, sondern daran, wie wir danach miteinander umgehen“, mahnte er.
Dann hatten die „normalen“ Mitglieder das Wort. Von der Wahl zwischen Pest und Cholera war die Rede, von einer Glaubwürdigkeitskrise der Partei. „Ob der Vertrag gut oder schlecht ist, spielt keine Rolle. Die Bevölkerung nimmt es uns nicht mehr ab, solange wir nicht anfangen uns innerlich zu verändern“, hieß es. Und das könne man nicht bei einer Regierungsbeteiligung. Auch einige gerade eingetreten Neumitglieder meldeten sich zu Wort. „Wo bleibt die Zukunft?“, fragte ein Neumitglied. „Wir müssen an die nächsten Generationen denken. Deswegen stimme ich gegen den Koalitionsvertrag. Damit wir etwas noch Besseres auf die Beine stellen.“ Ein anderer äußerte sein tiefe Sorge um die Zukunft des Landes: „Wir müssen mit dieser Partei, in die ich jetzt eingetreten bin, die Demokratie sichern.“ Wie aber sehe es bei einer Großen Koalition in zwei oder vier Jahren mit der SPD aus. „Ich denke an Weimarer Republik.“
Aber auch die Befürworter des Vertrages brachten ihre Argumente vor. „Schaut es euch doch an, was es für unsere Leute bedeutet, was da drinsteht“, fordert der ehemalige Vorsitzende der Harburger SPD, Harald Muras, die Genossen auf. „Das sind ganz reale Verbesserungen ihrer Lebensumstände.“ Auch sei die CDU nicht mehr die CDU eines Roland Koch oder Alfred Dregger. „Wir müssen mal zur Kenntnis nehmen, dass die CDU in die Mitte gerückt ist. Das ist kein rechtsradikaler Verein mehr“, so Muras. Auch die Sorge, dass bei einem Nein Neuwahlen kommen und die AfD stärker würde, treibt einige Genossen an, mit einem Ja zu stimmen.
Auffällig ruhig verhielten sich die Jusos, die mit ihrem Bundevorsitzenden Kevin Kühnert doch die Speerspitze der Erneuerer und GroKo-Gegner sind. Und schließlich hatten die Jusos in Süderelbe im Vorwege deutlich Position gegen die GroKo und den Vertragsentwurf bezogen. Einzig der ehemalige Juso-Kreisvorsitzende Thilo Sander, der nun nach seinem Ausscheiden aus diesem Amt in die Versammlungsleitung der 'großen SPD' aufgestiegen ist, ergriff das Wort. In einem, seinem neuen Amt würdigen, Redebeitrag, beschwor Sander die Furch vor einer stärker werdenden AfD bei Neuwahlen. Ganz im Sinne von Franz Münteferings Credo „Opposition ist Mist“ befand er, dass die Partei nur in der Regierung verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen könne: „Wir müssen Taten und Worte sprechen lassen; das tun, was man sagt. In der Opposition können wir nichts tun.“ Kritik übte er an den Jusos und ihrer Kampagne. Erneuerung gehe auch in der Regierung. Am Rande der Versammlung war aber zu vernehmen, dass dies nicht die Position aller Jusos im Kreis ist und dass sie sich bald öffentlich wieder äußern werden. Da kann man gespannt sein.
Ein offizielles Meinungsbild der Genossen gab es an diesem Abend nicht. An der Stärke des Applauses zu den jeweiligen Beiträgen aber konnte aber schon eine leichte, gleichwohl deutliche, Mehrheit für den Koalitionsvertrag ‚erhört‘ werden. Ob sich das am Ende des Mitgliedervotums bestätigt wird sich zeigen.
Kommentar. Wenn man böse sein wollte, dann könnte man sagen: Hätte es die Querelen der letzten Tage um Personalien, insbesondere um Martin Schulz, nicht gegeben – die GroKo-Befürworter hätten sie erfinden müssen. Denn für einige Genossen ist die Vorstellung, mit dieser sich so desolat aufführenden Bundesspitze in einen Wahlkampf ziehen zu müssen, der blanke Horror. Und deshalb wollen sie lieber mit Ja stimmen.
An einem Nein hindert vielfach auch der in der SPD weitverbreitete Glaube, dass man nur in der Regierung etwas bewirken könne. Treffender als Thilo Sander hätte man dieses Konzept nicht auf den Punkt bringen können – „In der Opposition können wir nichts tun.“ Aktive Gewerkschafter wissen es da beispielsweise besser. Und es wäre auch interessant, wie jemand wie Sander sich erklärt, wie die SPD von einer im Kaiserreich verfolgten Bewegung überhaupt in Regierungsverantwortung kommen konnte. Aber wahrscheinlich ist der Glaube, dass man nur in der Regierung etwas tun könne, in der momentan Verfasstheit der SPD schlicht die traurige Wahrheit.
Und es ist ein Irrglaube, dass sich eine Partei, die in einer so tiefen Krise wie die SPD steckt, erneuern könne, während sie an einer Regierung beteiligt ist und immer das Richtschwert des „Machbaren“ und des „Durchsetzbaren“, den sogenannten „Realitäten“, über dem Prozess schwebt. Auch lässt sich dieser Prozess nicht ohne Diskussion um Personen beginnen. Ausgerechnet Andrea Nahles als Erneuerin zu bestimmen, grenzt an Verhöhnung der Parteimitglieder. Sie hat, wie andere Juso-Bundesvorsitzende nach ihr, maßgeblichen Anteil daran, die Jusos und später auch die innerparteiliche Linke in weiten Teilen in die verordnete Langweiligkeit der Partei aus Grünkohlessen, Skatturnieren und Kaffeekränzchen integriert zu haben. Sie hat die Agenda-Politik mitgetragen, für viele der ehemaligen Wähler der Sündenfall der SPD. Erst mit der Wahl von Johanna Uekermann 2013 zur Juso-Bundesvorsitzenden und mit noch einmal mit eingelegtem Turbo seit der Wahl von Kevin Kühnert haben sich die Jusos aus diesem Sumpf der Langeweile und Bedeutungslosigkeit angefangen freizukämpfen.
Und das mit Erfolg. Denn was die Parteioberen in ihrer Festung der Beharrung in Berlin anscheinend noch nicht gemerkt haben: Während sie über eine Erneuerung der Partei nur Reden und diese gerne auf formale Aspekte innerparteilicher Demokratie beschränkt sehen wollen, haben die Jusos und alle, die mit ihnen aufgebrochen sind, schon damit begonnen. Auch in Harburg scheinen die Jusos nicht einfach nur mehr damit zufrieden zu sein, die fleißigen Flyerverteiler am Infotisch zu sein, sondern mehr zu wollen – und zu fordern. Es bleibt zu wünschen, dass sie dies auch nach dem Votum fortführen – egal wie es ausgeht.