Kommentar. „Es ist dem Untertanen untersagt, den Maßstab seiner beschränkten Einsicht an die Handlungen der Obrigkeit anzulegen.“ Diese obrigkeitsstaatliche Weisheit des preußischen Innenministers Gustav von Rochow (1792-1847) sieht die AfD-Fraktion Harburg auf das Schwerste durch den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der Linken in der Harburger Bezirksversammlung, André Lenthe, verletzt. In einem offenen Brief kritisiert sie, dass Lenthe aus Protest gegen das Alkoholverbot auf dem Rathausplatz und die damit in seinen Augen einhergehende Vertreibung der Menschen der sogenannten „Trinkerszene“, dort am 12. September öffentlich „zur Bierflasche gegriffen hatte“ und das sogar mit dem Ziel, eine Anzeige zu provozieren.
Geht gar nicht – findet die AfD. „Als politischer Mitbewerber missbilligen wir Ihr Verhalten entschieden“, so die Fraktion. Denn: „Aus Ihrem öffentlichkeitswirksamen Griff zur Bierflasche schließen wir, dass Sie bürgerliche Anstandsregeln, die Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander sind, verachten und es Ihnen zudem an Respekt unserem Rechtsstaat gegenüber mangelt.“ Zwar habe auch die AfD „aus verschiedenen Gründen“ das Alkoholverbot abgelehnt. „Aber unsere Erziehung, unsere Vernunft und unser Respekt gegenüber dem Gesetz fordern uns, Ihre armselige, infantile und beschämende Aktion scharf zu tadeln.“
André Lenthe, so die Fraktion in ihrem offenen Brief, habe sich politisch diskreditiert. „Wir fordern Sie dazu auf, sich für Ihr Benehmen öffentlich zu entschuldigen und unmissverständlich zu bekennen, dass Sie Ihre politischen Positionen zukünftig ausschließlich auf legalem Wege vertreten werden.“ Seine Wähler sollten reflektieren, ob André Lenthe „charakterlich“ zur Übernahme von Verantwortung in einem „demokratischen Rechtsstaat“ geeignet sei.
Krokodilstränen – denn das gerade die AfD die (angebliche) Verletzung „bürgerlicher Anstandsregeln“ bejammert, grenzt an Hohn. So bezeichnete Dubravko Mandic, Vorsitzender des baden-württembergischen AfD-Schiedsgerichts, den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als „Quotenneger“. Ihr Spitzenkandidat Alexander Gauland möchte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz „in Anatolien entsorgen“. Er möchte auch stolz auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ sein. Nur zur Erinnerung: Beide Weltkriege gingen von deutschem Boden aus, forderten über 70 Millionen Tote und viele deutsche Soldaten waren am Vernichtungskrieg im Osten beteiligt.
Und auch Hitler war eigentlich gar nicht so schlimm, wie Björn Höcke, Partei- und Fraktionsvorsitzender AfD in Thüringen, findet: „Das große Problem ist, dass Hitler als absolut böse dargestellt wird. Aber selbstverständlich wissen wir, dass es in der Geschichte kein Schwarz und Weiß gibt.“ Und zum Schluss nochmal was zu „bürgerlichen Anstandsregeln“, die für die AfD Harburg angeblich so wichtig sind: „Diese Schweine sind nichts anderes als Marionetten der Siegermächte des 2. WK“, findet die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel.
Schämen, wenn man bürgerliche Maßstäbe anlegt, muss sich nicht André Lenthe für eine solch harmlose Aktion. Schämen muss sich die Harburger AfD, die zu den hetzerischen Reden ihrer Parteifreunde schön das Maul hält und sie damit zumindest billigt.
Denn zu all diesen Äußerungen ihrer Parteifreunde findet sich auf den Seiten der Harburger AfD… nichts. Auch nichts über diverse AfD-Funktionäre, die wegen Betrugs, Untreue oder Volksverhetzung verurteilt wurden. So weit kann es also mit der Erziehung, der Vernunft und dem Respekt gegenüber dem Gesetz bei den Harburger AfD-Abgeordneten nicht sein.
Man kann also davon ausgehen, dass die Harburger AfD eine Protestflasche Bier als größere Gefahr für ihre „bürgerlichen Anstandsregeln“ ansieht. Was im Übrigen auch stimmt. Über Sinn und Unsinn der Aktion kann gestritten werden. Aber André Lenthes Motiv ist nicht, wie bei der AfD, Rassismus, Verharmlosung der Naziverbrechen und „Deutschland, Deutschland über alles“.
Schämen muss sie sich auch dafür, dass sie den offenen Brief bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht an André Lenthe geschickt hat – was die Regeln des bürgerlichen Anstands fordern.